Nachruf auf Reinhard Tietz
* 28. Juli 1928 † 6. April 2025
Im Wintersemester 1961/62 sitzt ein junger Mann in der Vorlesung „Konjunktur- und Wachstumstheorie“ an der Goethe-Universität Frankfurt. Er ist fasziniert von der Lösungsmethode für Differenzengleichungen zweiter Ordnung mithilfe komplexer Zahlen, die der vortragende Assistent in Vertretung des Professors im Rahmen des Konjunkturmodells von Paul A. Samuelson präsentiert. Diese Begegnung zwischen Student und Assistent, und bald auch zwischen Student und Professor, ist der Beginn einer wissenschaftlichen Entwicklung, ja einer Revolution, die hier an der Goethe-Universität ihren Anfang nahm – parallel zu einer sehr ähnlichen aber in gewisser Weise auch wieder sehr anderen Bewegung in den USA – und die 40 Jahre später im Wirtschaftsnobelpreis an Daniel Kahneman und Vernon L. Smith ihren Höhepunkt findet. Die Rede ist von der experimentellen Wirtschaftsforschung, welche in Europa durch die Gruppe um Heinz Sauermann (dem Professor), Reinhard Selten (dem Assistenten) und Reinhard Tietz (dem Studenten) in den 60er Jahren an der Goethe-Universität begründet wurde, parallel zu den Arbeiten von Vernon L. Smith in den USA, und die inzwischen zum Standardwerkzeug der empirischen Forschung in den Wirtschaftswissenschaften gehört. Der damalige Student Reinhard Tietz spielte zeit seines langen Lebens eine aktive Rolle in dieser Entwicklung. Am 6. April ist er im Alter von 96 Jahren in seiner Heimatstadt Frankfurt gestorben.
Reinhard Tietz wurde 1971 mit seiner Dissertation „Ein anspruchsanpassungsorientiertes Wachstums- und Konjunkturmodell (KRESKO)“ bei Heinz Sauermann an der Goethe-Universität promoviert. In seiner Arbeit führte er den zuvor von Sauermann und Selten im Rahmen von Oligopolspielen entwickelten Ansatz zur Analyse eingeschränkt rationalen Verhaltens fort und wandte ihn erstmals auf makroökonomische Experimente an. 1974 übernahm er am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften die neu geschaffene Professur für VWL, insbesondere Verhaltensforschung. Reinhard Tietz hat nahezu sein ganzes Forscherleben an der Goethe-Universität verbracht; in der damaligen Zeit war dies noch möglich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war er der erste Wirtschaftswissenschaftler, der den Begriff „Verhalten“ in der Denomination seiner Professur trug. Inzwischen sind es unzählige, die weltweit auf dem Gebiet der Verhaltensökonomie (behavioral economics) forschen und lehren.
Parallel zu seiner Forschungs- und Lehrtätigkeit engagierte sich Reinhard Tietz von Beginn an für die Weiterentwicklung seines Forschungsgebiets. Er war Gründungsmitglied der Gesellschaft für experimentellen Wirtschaftsforschung (GfeW), der weltweit ältesten Vereinigung experimentell arbeitender Wirtschaftswissenschaftler/innen, und deren Vorsitzender von 1982 bis 1995. Zudem war er von 1977 bis 1981 Vorsitzender des sozialwissenschaftlichen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik, auch dieser in Frankfurt 1971 unter Heinz Sauermann gegründet. 2018 verlieh ihm die Frankfurter Wirtschaftswissenschaftliche Gesellschaft (fwwg) für sein Engagement die Ehrenmitgliedschaft.
Doch nicht nur die experimentelle Forschung lag Reinhard Tietz am Herzen, auch die damals aufkommende elektronische Datenverarbeitung begeisterte ihn. Sein erstes ALGOL-Programm, das Preis- und Investitionsentscheidungen in einem Oligopol simulieren sollte, war für eine Zuse Z23 mit 8.000 Wörtern Speicherplatz. Der Einfluss von Herbert A. Simon, der die Wissenschaft mit seinen Pionierarbeiten sowohl auf dem Gebiet der eingeschränkten Rationalität als auch der Informatik prägte, ist offensichtlich. Auch hier war Reinhard Tietz Vorreiter für vieles, das wir heute im Kontext von „Big Data“ und in der fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Wirtschaftsinformatik und experimenteller Wirtschaftsforschung sehen.
Reinhard Tietz lag sehr daran, auch die Studierenden früh in seine Richtung zu lenken. In der Anfängervorlesung zur Mikroökonomie pflegte er die Edgeworth-Box mithilfe eines Hörsaal-Experiments zu erklären, in dem er eine Kiste mit Äpfeln mitbrachte, die dann von den Studierenden getauscht wurden. Gern fuhr er zum Blockseminar ins Kleinwalsertal – Skifahren war sein Lieblingssport – oder ging mit seinen Assistenten im Frankfurter Umland wandern.
Meine erste Begegnung mit Reinhard Tietz fand unmittelbar nach meiner Berufung an der Goethe-Universität im Frühjahr 2008 statt. Da war Reinhard Tietz bereits seit 15 Jahren pensioniert, nahm aber nach wie vor an vielen Veranstaltungen des Fachbereichs rege teil, darunter auch stets an der berühmten Artus-Runde. Er erzählte mir damals von seiner Idee, eine Büste zu Ehren von Reinhard Selten am Campus Westend aufstellen zu lassen. Diese Büste, ein Geschenk der GfeW an die Goethe-Universität, ist inzwischen im Gebäude der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zu sehen. Meine letzte Begegnung mit Reinhard Tietz war im September 2019 auf der Jahrestagung der GfeW in Düsseldorf, im Frühjahr desselben Jahres hielt er einen Vortrag bei uns im „Grüneburgseminar“, dem Workshop des Frankfurter Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung (FLEX). Zu seinem 95. Geburtstag telefonierten wir und diskutierten über möglichen Ideen für ein gemeinsames Paper. Dazu ist es leider nicht mehr gekommen.
Die Goethe-Universität und der Fachbereich Wirtschaftswissenschaften verlieren mit Reinhard Tietz einen begeisterten Kämpfer für die Wissenschaft. Seine Neugier, Offenheit und stetige Bereitschaft zum Diskurs werden uns immer in Erinnerung bleiben.
Prof. Dr. Michael Kosfeld, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, Goethe-Universität Frankfurt, Professor für BWL, insbesondere Organisation und Management, Direktor des Frankfurter Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung (FLEX)